Michelle Kolb
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Links das Prestenhaus, in der Mitte die alte Linsebühl-Kirche und rechts das Siechenhaus, Darstellung von Johann Conrad Mayr. z.V.g.
Im Jahr 1575 wurde im St.Galler Linsebühl, nahe dem seit 1219 bestehenden «Siechenhaus» für Lepra-Kranke, das Prestenhaus erbaut, um das Heiliggeistspital zu entlasten. Es entstand offenbar an der Stelle des «Pfaffenhauses», das die Stadt von den Siechenpflegern erwarb.
Spitalgeschichte Im Prestenhaus wurden Bürgerinnen und Bürger aufgenommen, die sehr schwere Krankheiten aufwiesen. Es waren Patientinnen und Patienten mit langwierigen, unheilbaren und abstossenden Krankheiten, aber auch psychisch kranke Menschen. Mitunter wurden im Prestenhaus aber auch Menschen mit einem leichteren Leiden untergebracht, zum Beispiel Krätze und Fieber. Es ist unklar, ob die Errichtung dieser Aussenstelle in Zusammenhang steht mit den im 16. Jahrhundert häufigen Pestzügen. Das mittelhochdeutsche Wort «Presten» hat jedenfalls nichts mit der Pest zu tun, sondern geht auf Mangel und Gebrechen zurück. Historiker betonen, dass das eigentliche Krankenhaus in St.Gallen in der frühen Neuzeit nicht das Heiliggeistspital war, das vorwiegend den Pfündern diente, sondern das Prestenhaus. Finanziert wurde es zur Hauptsache durch Vergabungen.
Das Zusammenleben im Prestenhaus war sicher nicht einfach, zumal Menschen mit körperlichen und seelischen Leiden aufgenommen wurden. 1619 trat die Patientin Bärbel Cyril ein, die im Heiliggeistspital in der Marktgasse nicht mehr tragbar war, weil sie übelriechende Geschwüre am Unterbein hatte. Sie beantragte aber, ins Heiliggeistspital zurückverlegt zu werden. Diesem Wunsch wurde nicht stattgegeben, weil den anderen Kranken dort der Gestank nicht zuzumuten war. Im Prestenhaus litten die anderen Patienten aber natürlich auch darunter. 1764 erbat der im Prestenhaus untergebrachte St.Galler Bürger Andreas Breysing, der als verwirrt galt, ins Heiliggeistspital verlegt zu werden. Diesem Wunsch wurde ebenfalls nicht entsprochen, weil der Spitalmeister die Aufnahme verweigerte mit dem Verweis auf dessen unvorsichtigen Umgang mit Feuer. Die Gefahr für die anderen Personen sei zu gross.
In den Protokollen wird 1738 Magdalena Thömmin aufgeführt, die unter Depressionen litt. Es wurde bestimmt, dass sie vom Heiliggeistspital ins Prestenhaus zu verlegen ist, wenn sich die Anzeichen für einen Suizid mehren sollten. Im Prestenhaus war die Aufsicht schon wegen der geringeren Zahl an Patientinnen und Patienten besser.
Der Stadtarzt und Lokalhistoriker Bernhard Wartmann (1739 bis 1815) berichtet von jährlichen Inspektionen. Der Bürgermeister, dessen Stellvertreter, der Prestenverwalter, der Spitalmeister und Spitalschreiber sowie der bestellte Arzt des Hauses liessen eine Person nach der anderen vortreten und fragten jede, ob sie etwas zu klagen habe. Dennoch blieb der Aufenthalt für viele belastend.
Anfänglich musste ein Angestellter die Speisen mittags und abends vom Heiliggeistspital ins Prestenhaus tragen. So kamen die Speisen, vor allem im Winter, kalt an. Der Prestenverwalter bemühte sich daher bei der Obrigkeit, dass das Spital das Fleisch roh liefern solle, um vor Ort gekocht zu werden. Der Rat genehmigte dies 1778, worauf die Kranken warmes Fleisch und frische Fleischbrühe erhielten.
Wer gehen konnte, ging alle Sonn- und Feiertage in die benachbarte Kirche. Nach der Predigt gingen die Pfarrer in die Krankenzimmer, um mit den Patienten zu sprechen und Trost zu spenden.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erlosch die Krankheit des Aussatzes. Das neben dem Prestenhaus bestehende Haus für Sondersiechen hatte damit seine Aufgabe erfüllt und hiess von nun an «Oberes Prestenhaus», wurde also ebenfalls zu einem Haus für Schwerkranke. Die Einrichtungen waren in beiden Häusern sehr mangelhaft, weshalb 1790 die Zunftvorsteher auf Verbesserungen drangen. Im Unteren Prestenhaus wurde hierauf die Stube für die psychisch Kranken mit einem Täfer versehen, ein neuer Boden eingezogen und eine bessere Entlüftung installiert. Aus einer bisher für vier Frauen bestimmten Stube wurde ein Krankenzimmer für Männer umfunktioniert, mit einer Feuerstelle mit Kamin und neuen Fenstern ausgestattet. Im oberen Haus wurden neue Böden gelegt und Vorfenster angebracht. Durch Ausbrechen einer Wand wurde eine weitere Krankenstube für Männer geschaffen. Gesorgt wurde auch für eine Verbesserung der Kost und das ehemalige Siechen-Kirchhöflein in einen Garten für Kranke umgewandelt. Eine weitere wesentlichen Verbesserung ergab sich 1816, indem für tobsüchtige Kranke ein besonderes Haus, das Haus zum Näfenacker, eingerichtet wurde, für das auch ein Irrenwart eingestellt wurde.
Zwischen 1830 und 1840 wurde, um die Verwaltung der drei Anstalten zu vereinfachen, das Linsebühl- und Prestenamt mit dem Spitalamt vereinigt. Das 1845 errichtete Bürgerspital nahm auch die Kranken und Gebrechlichen aus den beiden Prestenhäusern auf und gewährte ihnen eine wesentlich bessere Betreuung als jene, die in den engen Häusern möglich war. Das untere Haus musste 1856 der Vergrösserung des Friedhofs weichen. Anstelle des oberen Hauses wurde in den 1870er-Jahren ein neues Pfarrhaus für die beiden Pfarrer im Linsebühl errichtet. Das alte Kirchlein, das zur Verschönerung der Anlage für kranke Menschen beitrug, wurde 1897 abgebrochen, nachdem auf dem früheren Friedhof eine neue Kirche entstanden war.
Von Franz Welte
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