Markus Tanner
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Nach ihrem Studium in Deutscher und Italienischer Literatur und Sprache entschloss sich Katharina Gemperle, ihre Siebensachen in St.Gallen zu packen und in die Toskana zu ziehen. Nach etlichen Reisen nach Italien, stürzte sie sich mit 34 Jahren ins Auswandererabenteuer.
Zweite Heimat Von der Kantonshauptstadt ging es für Katharina Gemperle 1995 nach Florenz, in die Hauptstadt der Renaissance. «Das Einleben in der Stadt war mit Neugier verbunden, auch den Aufbau eines neuen Bekanntenkreises erlebte ich positiv, aber die Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche hätte ich mir vor dem Auswandern nicht vorstellen können», erinnert sich die 61-Jährige. In der Schweiz hat die in St.Gallen aufgewachsene Lehrerin während der Ausbildung und des Studiums stets gearbeitet. Doch nach der Auswanderung stand ihre finanzielle Unabhängigkeit auf der Kippe, nicht zuletzt auch deswegen, weil ihre erworbenen Diplome, Abschlüsse und Lehrbefähigungen im öffentlichen Schuldienst praktisch nicht anerkannt wurden. Während einer Studienberatung an der Universität von Florenz habe dann eine Dozentin erwähnt, dass ihre Ausbildungen die ideale Voraussetzungen für die Tätigkeit als Sprachlektorin seien. «Das war die Wende», sagt Gemperle. Mit viel Glück habe sie die Chance erhalten, einzelne Kurse in teilweise weit entfernten Orten zu unterrichten, bevor sie Ende 1997 an der Uni Siena fest eingestellt wurde.
Gemperle kannte sowohl das Land als auch die Leute, verstand die Sprache und wurde von ihrem italienischen Lebenspartner in allen Belangen unterstützt. «Die neue Heimat war mir nicht völlig fremd», sagt Gemperle. Trotzdem gab es am Anfang einiges zu erledigen, damit alle Papiere in Ordnung waren, vor allem die Aufenthaltsbewilligung und die Einschreibung in die Krankenkasse. «Ohne die Hilfe meines Mannes wäre alles noch komplizierter gewesen», erinnert sie sich. Nach ihrer Abmeldung in St.Gallen konnte sie den Wohnsitz nach Italien verlegen. Der Umzug selbst sei relativ einfach gewesen, da sie keine Wohnung suchen musste. Einzig die Eskapaden des Transportunternehmens, der die Habseligkeiten nicht wie abgemacht über Chiasso, sondern über Domodossola ausführen wollte, trieben den Puls in die Höhe. «Nach Stunden des Bangens und Hoffens, dass er wieder auftaucht, erschien der Unternehmer», entsinnt sich die Auswanderin. «Wir haben jedoch nie erfahren, welche Umwege er gefahren ist.» Bei ihrer Auswanderung habe sie versucht, sich keine allzu konkreten Erwartungen auszumalen, sondern für die sich bietenden Möglichkeiten offen zu sein. «Mir war und ist stets bewusst, dass ich mich aus freier Wahl für eine zweite Heimat entschieden habe», erklärt sie. Das Thema Migration und das Leben mit mehreren Heimaten habe sie bereits in der Schweiz interessiert, einerseits bei ihrer Arbeit mit Menschen aus aller Welt, andererseits auch in der Literatur und Sprache.
Die Toscana ist bekannt für die lieblichen Landschaften vom Apennin bis zum Meer sowie für die unendlich vielen Kulturschätze. Nicht nur in den Städten wie Florenz, Siena, San Gimignano, Volterra, Lucca, Pisa und Arezzo, sondern in jedem noch so kleinen Dorf gibt es etwas zu entdecken, sei es zu Fuss, mit dem Velo oder im Auto. «Auch die kulinarischen Spezialitäten sind weltbekannt», weiss Gemperle, «ob Foccaccia, Oliven oder Trüffel, Chianti, Vernaccia di San Gimignano oder Chinotto – fürs leibliche Wohl ist gesorgt.» In der Toskana wandle man ständig auf den Spuren der Etrusker, unzählige warme Quellen laden zum Verweilen ein und hinter jeder Ecke der hügeligen Landschaft könne sich ein kulturelles Highlight verbergen. «Ich liebe es, mit meinen Freunden zusammen zu sein, Spaziergänge in der Umgebung zu machen und Gartenarbeit zu verrichten. Ich besuche aber auch gern Theater-, Opern- und Kinovorstellungen», erzählt die Auswanderin.
Trotz der Vorzüge, die die Toskana biete, sei der Alltag anstrengend und die Zukunft mit grossen Unsicherheiten verbunden. In Italien gebe es viel zu verbessern: von der Infrastruktur über das Steuersystem bis zum Gesundheits- und Bildungswesen. Die Strukturen insbesondere in der Administration und in der Politik seien sehr festgefahren. Darunter leide ein bedeutender Teil der Bevölkerung. Viele Versuche, etwas zu verändern, erstickten wieder. «Da ist es immer wieder bewundernswert, wie die Menschen es verstehen, sowohl das Hier und Jetzt zu schätzen, als auch mit Veränderungen kreativ umzugehen», sagt Gemperle. Die Lebensunterhaltungskosten sind durch die Inflation der vergangenen Monate enorm gestiegen. Besonders die Rechnungen für Wasser, Gas und Strom sind extrem nach oben geschnellt. Dies spornt zwar zum sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen an, doch die Kosten schlagen nicht nur für Familien, sondern auch für Betriebe enorm auf das Budget. «Mein Mann und ich haben keine teuren Freizeitaktivitäten und brauchen keinen grossen Luxus, deshalb können wir zum Glück dank seiner Rente und meinem Gehalt diese rasante Teuerung noch verkraften», erklärt die Doppelbürgerin, «dennoch bereitet die aktuelle Entwicklung Sorgen, weil immer mehr Menschen diesen Kostenanstieg nicht bewältigen können.»
«So richtig zuhause gefühlt habe ich mich, nachdem wir vor 21 Jahren in das kleine Dorf in der Nähe von Siena umgezogen sind, wo wir in einer neueren Überbauung eine Wohnung mit kleinem Garten gekauft haben», offenbart Gemperle. Weil sie sich in Italien heimisch fühle und ihre politischen Rechte wahrnehmen möchte, habe sie 2008 die italienische Staatsbürgerschaft angenommen. Seither ist sie Doppelbürgerin. «Im alltäglichen Bereich bin ich flexibler und improvisationsfähiger geworden und habe gelernt, vieles nicht als Selbstverständlichkeit anzusehen», erklärt sie. «Umgekehrt sehen meine italienischen Freunde bei mir typisch schweizerische Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein und Ehrlichkeit, meine Bemühungen für Gleichheit und demokratische Werte sowie mein Engagement für Nachhaltigkeit.
Die Auswanderung habe sie nie bereut, auch wenn das Zuhause-Fühlen mit Aufs und Abs verbunden sei. «Vermutlich würde ich es umgekehrt bereuen, den Versuch nicht gewagt zu haben, wenn ich Mitte der 1990er-Jahre nicht ausgewandert wäre», sagt Gemperle. Natürlich gebe es Tage, an denen ihr die Schweiz, das Leben in der Schweiz, ihre Freundinnen und Familie fehlten oder an denen ihr die Entwicklungen in Italien grosse Sorgen bereiteten. Weil sie gut auf Nebel und vereiste Strassen verzichten könne, plane sie aber vorerst keine Rückkehr. «Im Moment sehe ich meine Zukunft hier», sagt die Auswanderin. «Wo mein Mann und ich dann unseren Lebensabend verbringen, hängt von unserer Gesundheit und zum Teil von äusseren Bedingungen ab.»
Von Benjamin Schmid
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