Vica Mitrovic
über sein Jahr als St.Galler Stadtparlamentspräsident.
Annina Policante (ganz links) und ihr Team von Tischlein deck dich St.Gallen.
Seit 20 Jahren setzt sich der Verein «Tischlein deck dich» dafür ein, Lebensmittel zu retten und armutsbetroffene Menschen zu unterstützen. Annina Policante, Koordinatorin der Offenen Kirche St.Gallen und Leiterin der Abgabestelle, spricht über die Entwicklungen, Herausforderungen und die Bedeutung nachhaltiger Versorgung.
Nahrung In der Schweiz leben 8,2 % der Bevölkerung in Armut, laut Bundesamt für Statistik ist mehr als jede sechste Person armutsgefährdet – das sind insgesamt rund 1,34 Millionen Menschen. Gleichzeitig wird hierzulande etwa ein Drittel aller Lebensmittel verschwendet – das entspricht einer Menge von 2,8 Millionen Tonnen vermeidbarer Lebensmittelabfälle pro Jahr. Annina Policante und ihr Team der Abgabestelle St.Gallen Offene Kirche setzen sich Woche für Woche entschlossen gegen Foodwaste und Armut ein. Das gemeinnützige Engagement der Helferinnen und Helfer bewirkt viel: Seit der Eröffnung vor 20 Jahren konnten knapp 540’000 kg Lebensmittel im Wert von rund 3'200’000 Franken gerettet und verteilt werden. Im Jahr 2023 konnte «Tischlein deck dich» gerettete Lebensmittel für rund 7770 Personen an der Abgabestelle St.Gallen Offene Kirche bereitstellen.
Frau Policante, was steckt hinter der Idee von Tischlein deck dich?
Tischlein deck dich möchte Lebensmittel retten und sie armutsbetroffenen Menschen zur Verfügung stellen. Es ist ein schweizweit tätiger Verein mit rund 160 Abgabestellen, darunter unsere in der Offenen Kirche St.Gallen an der Böcklinstrasse 2.
Wie hat sich Tischlein deck dich seit seiner Gründung entwickelt?
Anfangs gab es nur zwei oder drei Abgabestellen in der Schweiz. Heute sind es rund 160. Zudem sind Plattformen zur Belieferung anderer Hilfsorganisationen entstanden, und wir beliefern Einrichtungen, die Lebensmittel an bedürftige Menschen weitergeben.
Was waren die grössten Herausforderungen?
In St. Gallen war der Umzug der Abgabestelle eine grosse Herausforderung. Zunächst befanden wir uns im St. Leonhard, dann zogen wir übergangsweise nach St. Maria Neudorf und letztendlich an die Böcklinstrasse. Auch die Corona-Pandemie stellte uns vor neue Probleme. Sie brachte eine veränderte Nachfrage, da Menschen aus der Gastronomie plötzlich arbeitslos wurden. Heute kommen auch jüngere Menschen häufiger zu uns, während einige unserer langjährigen älteren Kunden nicht mehr erscheinen.
Gab es besondere Ereignisse, die Ihnen in Erinnerung geblieben sind?
Ein Vorfall war der sogenannte «Sozialhilfemissbrauchsskandal», über den das Magazin 20 Minuten berichten wollte und der sich letztlich als falsch erwies. Es ist wichtig, über die Hintergründe solcher Geschichten aufzuklären, um Missverständnisse zu vermeiden und die tatsächlichen Absichten unserer Arbeit in den Vordergrund zu stellen.
Wie hat sich die öffentliche Wahrnehmung von «Tischlein deck dich» entwickelt?
In den vergangenen Jahren ist der Bekanntheitsgrad enorm gestiegen. Früher war «Tischlein deck dich» vielen noch unbekannt, heute wird es in der Öffentlichkeit und in den Medien deutlich wahrgenommen.
Wie wichtig ist Nachhaltigkeit bei Tischlein deck dich?
Nachhaltigkeit ist ein zentraler Aspekt unserer Arbeit, denn die Rettung von Lebensmitteln ist eine direkte Massnahme gegen Verschwendung. Es geht darum, sowohl die Umwelt als auch Ressourcen zu schonen.
Wie konnte Tischlein deck dich über die Jahre eine nachhaltige Versorgung aufbauen?
Dank unserer guten Kooperationen mit Grossverteilern wie Coop und Migros können wir zuverlässig Lebensmittel zur Verfügung stellen. Diese Partnerschaften tragen entscheidend zur Nachhaltigkeit unserer Versorgung bei.
Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern und Freiwilligen?
Die Zusammenarbeit mit Partnern wie unserer Lieferstelle in Winterthur ist essenziell. Zudem könnten wir ohne Freiwillige unsere Arbeit gar nicht leisten. Diese Unterstützung ermöglicht es uns, bedürftige Menschen kontinuierlich zu versorgen.
Gab es Projekte zum 20-jährigen Jubiläum?
Nein, wir haben nichts geplant, da wir uns nicht selbst feiern. Unsere Arbeit spricht für sich, und das möchten wir so beibehalten.
Gibt es in Ihrer Arbeit auch Herausforderungen, die früher nicht absehbar waren?
Die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse stellt uns vor neue Herausforderungen. Die Organisation und Verteilung solcher verderblichen Waren erfordert eine besondere Logistik und Planung.
Wie haben sich die Bedürfnisse der Hilfesuchenden verändert?
Eine steigende Anspruchshaltung, die uns immer häufiger begegnet, können und wollen wir nicht erfüllen. Wir sind darauf angewiesen, unsere Mittel gezielt einzusetzen und realistisch zu bleiben. Die überwiegende Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer unseres Angebots zeigen sich sehr dankbar über unsere Hilfe.
Was motiviert Sie und Ihre Organisation, diese Arbeit fortzusetzen?
Die Verschwendung von Lebensmitteln auf der einen und die Armutsbetroffenheit auf der anderen Seite treiben uns an. Solange diese Gegensätze bestehen, wird Tischlein deck dich sich weiterhin für eine gerechte Verteilung von Lebensmitteln einsetzen.
Wie sieht die Zukunft von «Tischlein deck dich» aus?
Unser Ziel ist es, die Menschen für das Thema Lebensmittelverschwendung zu sensibilisieren – idealerweise so erfolgreich, dass es uns irgendwann nicht mehr braucht. Eine Zukunft ohne Foodwaste und Armut wäre unser grosser Wunsch.
Interview von Benjamin Schmid
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